Es gibt in der Entwicklung der Kampfkünste einige Epochen, in die ich gerne als Zeitreisender zurückgehen würde: Zum Beispiel ins 19. Jahrhundert nach Okinawa, um dort im Matsuyama Park mit den Pionieren des Karate zu trainieren. Oder in die 1920er Jahre nach Beijing, wo Wang Xiangzhai sein bahnbrechendes Da Cheng Quan vorstellte. Oder um 1970 nach Chinatown Los Angeles, wo Bruce Lee sein Jeet Kune Do unterrichtete. Aber hier und jetzt erleben wir einen Quantensprung in der Evolution der Kampfkünste, der nicht weniger spannend ist. Das digitale Zeitalter ermöglicht uns Einsichten und Zugang zu Informationen wie niemals zuvor. Besonders Karate erlebt eine Renaissance, die noch vor einigen Jahren kaum vorstellbar gewesen wäre. Wenigstens für diejenigen Karate-Ka, die ihre Kunst weiterentwickeln wollen und offen für Neuerungen sind. Doch wie sagt man? Es gibt nichts Neues unter der Sonne - ausser vielleicht, das ganz Alte...
Doch gehen wir erst ein paar Jahre zurück: Es gab mal eine Zeit, da war Karate richtig angesagt. Nachdem Bruce Lee die asiatischen Kampfkünste in den 1970ern populär gemacht hatte, strömten die Leute in die wenigen Clubs, die es damals bei uns gab. Nebst den schon etwas etablierten Judo-Clubs waren Karate-Schulen die erste Wahl für zukünftige Kampfsportler. Für einen richtigen Boom sorgte dann 1984 der Film Karate Kid, der mancher Schule zum Erfolg verhalf.
Doch die Ernüchterung folgte in den 90er-Jahren: An jeder Ecke gab es Kampfkunst-Schulen, und Karate bekam Konkurrenz durch viele andere Stile. Dazu kam, dass mit der UFC ein Wettkampfsystem aufkam, das viele der gängigen Mythen zerstörte und die traditionellen Kampfkünste entzauberte. Im Oktagon zeigte sich sehr schnell, was funktioniert, und was theoretisches Wunschdenken war. Plötzlich waren Brazilian Jiu-Jitsu und Muay Thai angesagt. Karate galt als veraltet, ineffizient und für den wirklichen Kampf nicht zu gebrauchen.
Seit einigen Jahren jedoch, hat sich das Blatt gewendet: UFC-Fighter wie Lyoto Machida beweisen, dass Karate eine hervorragende Basis für MMA sein kann. Bunkai-Experten wie John Burke demonstrieren realistische Anwendungen für jede Technik unserer Kata. Karate-Historiker wie Patrick McCarthy decken auf, wie sich Karate von einer Tradition auf den kleinen Ryukyu-Inseln zu einem weltweiten Phänomen entwickelt hat, und welche Aspekte dabei in Vergessenheit geraten sind. Daraus ergibt sich ein neues Karate-Bild, das eine komplette, praktische Kampfkunst zeigt: Karate entstand auf Okinawa, einem Schmelztiegel der Kulturen. Durch die geografische Lage kamen hier Einflüsse aus China, Japan, Thailand und anderen Nationen zusammen. Vereinfacht gesagt wurde aus Kung Fu, Muay Thai, Jiu-Jitsu und einheimischen Techiken ein einmaliges, hybrides Kampfsystem geschaffen, eine wahre "Mixed Martial Art". Dieses Selbstverteidigungssystem beinhaltete viele Aspekte, die im modernen Karate verloren gingen. Nebst Schlag- und Kicktechniken gehörten auch Würfe, Hebel und Bodenkampf zum Arsenal des ursprünglichen Karate. Das sogenannt "traditionelle" Karate, wie wir es kennen, ist eine stark japanisch geprägte Form, die nach dem zweiten Weltkrieg entstand und viele Inhalte des ursprünglichen Karate ausblendete. Nichtsdestotrotz sind alle Teile des Puzzles vorhanden, sofern man sich die Mühe macht, sie zu suchen. Und zwar finden wir alle Teile in den Kata. In diesen Formen sind über die Jahrhunderte alle Facetten des ursprünglichen Karate erhalten geblieben. Shigeru Egami schrieb 1976 in seinem Buch "The Heart of Karate-Do": Es wäre interessant, in der Zeit zurückzugehen zu dem Punkt, als die Kata kreiert wurden, und sie zu studieren. Heute können wir das beinahe. Mit wenigen Klicks sind auf Youtube alte Versionen und Anwendungen unserer Kata zu finden. Wir können Details und Stile vergleichen und so die ursprünglichen Formen rekonstruieren. Shigeru Egami schrieb ausserdem in seinem Buch: Früher trainierten wir auch Wurftechniken, und ich empfehle, diese Praxis wieder aufzunehmen.
Es ist an uns - den Karate-Ka von heute - von dieser einmaligen Situation zu profitieren, aus der Fülle von Informationen die für uns Richtigen auszuwählen und unsere Kunst weiterzuentwickeln. Der japanische Poet Matsuo Basho hat gesagt: Folge nicht blind den Fussspuren der alten Meister - such' das, was sie gesucht haben. In diesem Sinn: Packen wir's an! Wenn nicht jetzt, wann dann? Wenn nicht wir, dann wer?
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